5 - 2019
Jeder geht damit anders um. Nach dem Anschlag von Halle bin ich wie vor den Kopf gestoßen. Ist das wirklich in Deutschland möglich? Offenbar. Wir haben mit der AfD nicht nur eine rechte Partei in den Parlamenten. Wir haben nicht nur Rassismus im Land. Ausländerfeindlichkeit. Wir haben offenkundig auch Antisemitismus im Land. Der nicht nur irgendwo verschämt vor sich hin gärt, was schlimm genug wäre. Sondern der sich mit einem Attentat tödlich entlädt.
Was kann man tun? Was kann ich tun? Es mag komisch klingen, aber ich habe mir die Nähmaschine von meiner Mutter ausgeliehen. Und spontan am Wochenende 3 Kippot genäht, das ist der hebräische Plural von Kippah.
Das war erstaunlich einfacher als gedacht. Und so geht es:
Eine Vorlage aus Karton aufmalen und ausschneiden.
Mit dieser Vorlage aus zwei verschiedenen Stoffen je 4 Teile ausschneiden.
Die vier Außenteile und die vier Innenteile jeweils von der Rückseite her zusammen nähen
Beide danach mit den Innenseiten ineinander legen und zusammen nähen
Zum Schluss ein Band um den unteren Rand legen und fest nähen.
Fertig!
Auf diese Art habe ich 2 Kippot genäht. Und danach noch eine dritte, vergleichsweise „quick and dirty“.
Einen ca. 56 cm langen und ca. 10 cm hohen Streifen Stoff auswählen
Die Enden von der Innenseite her zusammen nähen
Innen mit einem Zirkel (maximale Weite) 6 Bögen aufmalen
Entlang der Bögen den Stoff zusammen nähen
Innen die überstehenden Stoffenden kreisförmig arrangieren
Abschließend von innen die überstehhenden Stoffenden festnähen.
Fertig!
Was tun mit den Kippot? Eine werde ich auf jeden Fall Terry Swartzberg schenken. Er ist so mutig, so inspirierend. Er hat J.E.W.S. gegründet und mich dankenswerter Weise gefragt, ob ich dabei sein möchte, was ich sehr gerne bin. Das steht für „Jews engaged with society“. Wir setzen uns für einen freudigen, offenen Kontakt von Juden und der Gesellschaft ein. Wir wollen Solidarität mit Juden ermöglichen, Kindern und Jugendlichen Kontakte mit Juden verschaffen, damit sie ihre Fragen klären können. Wir wollen, dass mehr Menschen eine Kippa in der Öffentlichkeit tragen. Als Zeichen ihrer Solidarität. Terry lädt auch Nicht-Juden wie mich ein, eine Kippa zu tragen.
Das hat sich am Anfang komisch angefühlt. Darf ich das überhaupt? Als Frau? Als Nicht-Jüdin? Ist das irgendwie anmaßend den Juden gegenüber? Tue ich so, als wäre ich Jüdin, ohne eine zu sein? Fragen über Fragen. Eine Bekannte hat mich promt nicht mehr erkannt, als ich eine Kippa auf hatte. Offenbar ändert die Kippa die Wahrnehmung einer Person doch.
Wir möchten gerne ein Solidaritätsfest sehen, bei dem Juden und Nicht-Juden gemeinsam demonstrieren, so wie es beim Christopher Street Day der Fall ist. Da laufe ich auch gelegentlich mit, einige nicht-QUEERE Menschen schminken und verkleiden sich extra, solidarisch. So kann das auch bei dem Solidaritätsfest für Juden sein.
Was Du tun kannst? Bereite Dich gerne vor. Erwerbe eine Kippa oder nähe Dir selbst eine nach obigem Muster. Nähe mehrere Kippot und verschenke welche im Freundes-, Familien- und Bekanntenkreis. Weihnachten steht ja vor der Tür :-) (auch Hanukkah, das jüdische Lichtfest :-))
Was denkst Du darüber? Würdest Du eine Kippa aufsetzen und bei einem Solidaritätsfest mit laufen? Willst Du eine Kippa nähen? Schreib mir gern, ich freue mich sehr über Feedback.
Danke, dass Du bis hier hin gelesen hast.
Danke für Dein Interesse.
04 - 2019
Wieder ein sehr schlauer Satz.
Was habe ich denn so vollbracht?
Gut, ein paar akademische Leistungen. Ich gebe es zu, da bin ich immer noch stolz drauf. War nicht einfach. ver.de eG und AG gegründet. Kapitalanlagestrategie erarbeitet. Davor: ver.de
Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit (kurz VVaG) gegründet und dafür einen Zulassungsantrag - fast gehabt.
Es fehlte "nur" noch das Kapital. Gut, es waren ein paar Millionen. Da war und ist mit der Rechtsform des VVaG nichts zu machen. Sackgasse. Habe ich lange probiert. Daher gibt es jetzt diese
Doppelstruktur eG und AG. Weil die eG kein Versicherungsgeschäft betreiben darf und die AG mich nicht erfüllt. Davor: habe ich ein paar Bäume für die Allianz ausgerissen. Davor: fast 20 Jahre an
Schule und Uni zugebracht. Die meisten Jahre davon waren sehr gut. Geile Zeit.
Was liebe ich?
Meine Familie. Danke für alles. Ich weiß, dass ich Möglichkeiten hatte und habe, die andere nicht haben. Das will ich nutzen, damit andere auch mehr Möglichkeiten bekommen.
Mein schönes Zuhause, mein schönes Büro.
Meinen Bruder, meine Eltern, meine Cousins, Cousinen, Onkel, Tanten, Verwandten, ob angeheiratet oder nicht. Meine Freunde. Meine Bekannten. Unser tolles kleines, feines Team. Unsere
Geschäftspartner. Unsere Mitglieder. Unsere Aufsichtsräte. Unsere schöne Terrasse. An manchen Tagen liebe ich sie alle: die Ökofinanzberater (herzliche Grüße nach Bonn), die Mitarbeiter der BaFin,
die Investoren, die dann doch nicht investiert haben und die Investoren, die noch investieren werden. Die Blumen, die Bäume, die Tiere, die Schmetterlinge. Die Bakterien und die Pilze. Die Menschen,
die schon gelebt haben und die, die noch gar nicht geboren sind. Natürlich nicht jeden Tag, es gibt auch andere. Aber an manchen Tagen könnte ich die ganze Welt umarmen vor Glück.
Worauf ich hoffe?
Dass das alles aufgeht.
Ganz egoistisch: dass ver.de aufgeht.
Dass ich meine Eltern stolz mache. Dass ich ihr sauer verdientes Geld nicht sinnlos für ver.de ausgebe.
Dass ver.de genug Investoren findet. Genug Mitglieder. Genung Kunden.
Dass es mir gelingt, damit einen Beitrag zu leisten. Meinen Beitrag.
Dass meine Nachfahren stolz auf mich sind.
Daß sie mich nicht peinlich berührt fragen müssen "Marie, was hast du eigentlich getan, als bekannt war, das Klima kippt und die Arten sterben?" so wie ich meine Großmutter fragen musste, mich selbst
fragen musste, was meine Vorfahren eigentlich so gemacht haben, als klar war, dass die Juden keinen Schutz mehr im Staat haben und jeder mit dem schlimmsten rechnen musste, auch wenn das "nur"
Gerüchte waren und noch nicht wissenschaftlich abgesichert wie die heutigen globalen Katastrophen.
Dass sich die alten Katastrophen nicht wiederholen und uns allen neue Katastrophen möglichst erspart bleiben. Weil wir wissen, was zu tun ist und das auch tun.
Dass ich am Ende meines Lebens meine Handlungen nicht bedauern muss, so wie ich bisher noch keine Handlung bedauern musste, zum Glück.
Danke für dein Interesse. Danke, dass du bis hier gelesen hast.
03-2019
Wir haben es wieder getan:
Bei unserem Rama Dama haben wir mit Wassereimern, Holzpflegelotion und Feudeln unserem Büro eine Grundreinigung verpasst. Danach gab es zur Belohnung eine leckere Bio-Pizza von unseren Namensverwandten www.pizza-verde.de auf unserer Terrasse in der Sonne. Schließlich haben wir noch ein paar Frühlingsblumen eingepflanzt, damit unsere Bienen neue Futterplätze finden.
Es ist eine tolle Bürogemeinschaft in der Frundsbergstraße, genannt berg23. Angefangen hat es im Sommer 2017, als Thomas Grimm und ich beschlossen haben, uns im berg23 anzusiedeln. Unsere Büro-Mitbewohner sind Thomas Marschall und Dr. Stefan Klotz. Beides sind Pioniere der Green Bonds. Da berg23 auch Heimatadresse von Geld mit Sinn! e.V., ist der berg23 so etwas wie ein coworking space für nachhaltige Finanzakteure in München. Hier haben wir 2018 mit vielen anderen unser Event zur Nacht der Umwelt 2018 geplant und durchgeführt, gemeinsam haben wir mit Blanca Pohl hier auch uns Event "Finanzcafé" bei der Klimaherbst Dult ersonnen und erschaffen. Uns verbindet die Vision und der feste Glaube, dass man mit Geld viel Gutes bewegen kann. Da arbeiten wir drauf hin. Heute sind wir eine Nische. Immer noch von vielen misstrauisch beäugt oder belächelt. Ich hoffe, dass unsere Ideen und Anstrengungen auf fruchtbaren Boden fallen und wachsen wie die Blumen auf unserer Terrasse. Und wer weiß, ich hoffe es jedenfalls: dass wir eines Tages "der Mainstream" sind, und sich die Leute dann erstaunt am Kopf kratzen und fragen: "Sag mal, wie konntet ihr früher eigentlich Geld anlege, ohne auf die Wirkung zu achten?"
Ich bin froh und dankbar, zusammen mit den vielen engagierten Pionieren Teil dieser außergewöhnlichen Bürogemeinschaft zu sein.
Danke!
02-2019
Sehr cool!
Der französische Präsident wendet sich an alle mit einer tollen Vision. Wow. Chapeau für diese Originalität!
Europa hat ein tolles Projekt, was bisher noch gar nicht die Aufmerksamkeit gefunden hat, die es verdient. Nämlich: die Geldströme zu ändern! Alle Investitionen sollen auf ihre soziale und ökologische Auswirkung überprüft werden. Denn mit den Investitionen gestalten wir (als Menschen) unsere Zukunft. Der Strategische Einkauf macht bestimmte Investitionen dann rentabel und andere weniger rentabel. Doch davor steht die Investition, ohne die das Angebot für den strategischen Einkauf gar nicht vorhanden wäre.
Daher ist der EU Aktionsplan für Nachhaltiges Finanzwesen so wichtig. Denn der Finanzsektor ist der schlafende Riese in der Transformation, der geweckt werden muss.
Doch die konventionelle Finanzlobby lässt nichts unversucht und arbeitet kräftig gegen diese tolle Initiative. Sie will, dass eine Berichtspflicht nur für die Finanzprodukte gelten soll, die als "nachhaltig" angeboten werden. Alle anderen Finanzprodukte sollen zu nichts verpflichtet werden.
Der Dachverband der Versicherungswirtschaft GDV hat sich in seinem Positionspapier schon für diese "Freiwilligkeit" ausgesprochen. Es darf davon ausgegangen werden, dass auch die großen europäischen Versicherer Allianz, Axa, Generali und die europäischen Rückversicherer Münchener Rück, Swiss Re, Hannover Rück sich in dieser Weise für "Freiwilligkeit" einsetzen. Liege ich da falsch, liebe Freunde?
ver.de setzt sich natürlich für den EU Aktionsplan ein. Und für Europa.
Es ist wichtig, das Europäische Parlament zu stärken. Es ist wichtig, wählen zu gehen.
Danke, dass du bis hierhin gelesen hast. Danke für dein Interesse.
#Europa #diesmalwählich #EmmanuelMacron #sustainablefinance #HenrikeHahn
01-2019
Heute möchte ich einen Menschen würdigen, den ich sehr schätze.
Ich meine ich schätze grundsätzlich erst mal alle Menschen und alle meine Freunde natürlich besonders. Von daher fühlt es sich etwas seltsam an, nun einen einzelnen Menschen so heraus zu stellen. Daher ist es mir wichtig zu sagen, dass ich andere Menschen ebenfalls sehr schätze. Ich hoffe, es fühlt sich niemand zurück gesetzt dadurch.
Jedenfalls, es handelt sich um Terry Swartzberg.
Warum stelle ich gerade ihn so heraus? Nun, er bringt eine Seite zum Klingen bei mir, von der ich zwar wusste, das sie da ist, die ich aber immer eher in eine private Ecke verbannt habe. Aber jetzt bin ich wieder bei mir und nicht bei Terry, also zurück zu Terry: ich bewundere insbesondere alle Menschen, die nicht in Deutschland geboren und aufgewachsen sind und die sich angesichts der unerträglich schlimmen Geschichte von Deutschland überhaupt getraut haben, jemals einen Fuß in dieses Land zu setzen. Die angesichts des aufkeimenden Rechtsrucks mit der AfD nicht schreiend abreisen. Ich glaube, wenn ich hier nicht geboren und aufgewachsen wäre, ich wäre niemals hierher gekommen, freiwillig. Aber jetzt bin ich schon wieder bei mir. Terry. Terry ist Journalist und Campaigner.
Terry Swartzberg's Familie hat einige Angehörige im sogenannten dritten Reich verloren. Er kam trotzdem. Er ist schon mehrere Jahrzehnte da. Das alleine finde ich schon sooooo mutig. Doch es kommt noch besser. Terry sagt, statistisch ist Deutschland das sicherste Land für Juden. Vor Israel und Amerika. Wer hätte das gedacht? Also um sich und seine jüdischen Glaubensgeschwister davon zu überzeugen, dass Deutschland sicher ist, trägt er seit 6 Jahren eine Kippa in der Öffentlichkeit und privat. Lustige Kippas. Oh, vielleicht kanntet ihr ihn vorher schon. Ich schreibe also gar nichts neues? Ich kannte ihn jedenfalls noch nicht. Eine seiner Kippas ist im Museum für deutsche Geschichte in Bonn ausgestellt. Er tritt für einen"joyous, embracive judaism" ein, ein "freudiges, umarmendes Judentum", ein offenes, freies, fröhliches Judentum. Er hat keine Angst. Er will aufklären: Juden sind Juden. Mitmenschen. Leider wurden sie in der deutschen Geschichte öffentlich verteufelt. Das hat zu der Katastrophe schlechthin geführt: dem zügellosen Hass, dem Massenmord. An Juden. An Homosexuellen. Politisch anders denkenden. Vor allem: an Juden. Auf der Hass-Skala standen sie ganz oben. Es gibt 6 Millionen jüdische Opfer, das ist die größte Opfergruppe des Hasses. Daher finde ich es berechtigt zu sagen, das Leiden der Juden während des sogenannten dritten Reiches und lange davor war unvergleichlich.
Damit sich so eine Tragödie nicht noch einmal ereignen kann, werden die Opfer nun durch ein einmaliges Kunst-Projekt gewürdigt. Niemand soll vergessen werden. #weRemember. Terry Swartzberg setzt sich mit der Initiative Stolpersteine München e.V. dafür ein, dass die Opfer nicht vergessen werden. Auch die Euthanasie-Opfer, auch die homosexuellen Opfer, alle Opfer des Nazi-Hasses, die in München gewohnt haben. Ehemalige Nachbarn, sozusagen.
Und als weitere Maßnahme der Prävention, für ein "joyous, embracive judaism" hat er nun J.E.W.S. e.V. gegründet, eine Initiative, die Kontakte mit Juden für Jugendliche fördern und einen bewussten Umgang mit der Geschichte vermitteln will. Berührungsängste mit Juden soll dadurch vorgebeugt, bzw. falls schon vorhanden, abgebaut werden. Ich finde das ein sehr wichtiges Projekt. Denn wir sehen ja am Beispiel der Muslime, dass es gerade in solchen Orten die größten Vorbehalte gibt, in Chemnitz und Dresden mit Pegida, wo es kaum oder gar keine Muslime gibt.
Das Verständnis füreinander wächst mit dem Kontakt. Die Zuneigung und Liebe für unsere Mitmenschen wächst mit dem Kontakt. Insofern finde ich nicht nur die Idee des "joyous, embracive judaism" fantastisch, ich fände es gut, wenn jede Glaubensgemeinschaft, jeder Mensch dies anstreben würde, damit wir alle freudig und angstfrei miteinander leben: Juden, Muslime, Christen, Buddhisten, Atheisten, ... embracive islam, embracive christianity, embracive budhism, embracive atheism als Ergänzung zu joyous, embracive judaism. Terry hat übrigens sehr viele muslimische Freunde, was ich auch toll finde. In diesem Sinne wünsche ich uns allen - Frieden.
Mehr zu Terry Swartsberg findet ihr hier
Ich schnelle hoch. „Die Gestapo?“ denke ich. Doch nein, das kann nicht sein. Es ist das Jahr 1970, ich bin in München, und morgen treffe ich mich mit …. mit wem noch mal? Ach ja, dem Organisationskommittee der Olympischen Spiele. Es klopft noch mal. Ich erwarte niemanden. Also mache ich auch nicht auf. Soll ich die Rezeption anrufen? Ja, die Rezeption. Ich wähle die 9, es klingelt.
„Vor meiner Tür steht jemand und klopft, könnten Sie bitte jemanden hochschicken?“
„Natürlich, gleich.“
„Danke!“
Ich lasse mich zurück ins Kissen fallen. Nach 5 endlosen Minuten höre ich Schritte. Es klopft schon wieder an meiner Tür.
„Hallo? Sie haben angerufen? Hier ist sonst niemand. Sie können beruhigt schlafen.“
Ich antworte nicht.
„Ich gehe wieder runter und rufe Sie von unten an.“
Die Schritte verschwinden. Es ist alles ruhig. Nach weiteren 5 Minuten klingelt das Telefon. Ich richte mich auf.
„Hallo?“
„Da war niemand. Sie können beruhigt sein.“
„Danke, dass Sie das überprüft haben,“ sage ich und lege auf.
Ich bin naß geschwitzt. Das liegt nicht nur an der dicken Daunendecke auf der durchgelegenen Matratze. Noch einmal sehe ich die Szene vor meinem geistigen Auge: Die roten fettigen Lampenschirme. Der Geruch von Fischsauce. Der Mann, groß, dunkel Haare, mit seinem wettergegerbten Gesicht. Die Frau mit ihren langen, lockigen Haaren, den großen Augenbraunen, den großen goldenen Ohrringen und ihren Kompagnon, den glatzköpfigen Zwerg. Ob sie das waren, die geklopft haben? Ihre durchdringenden und gleichzeitig teilnahmslosen Blicke.
Ich drehe mich zur Seite und ziehe die Schublade des Nachttischs auf. Holzimitat. Die .15mm liegt in ihrem Schaft am Gürtel. Wie es sein soll. Schublade schließen. Aufstehen. Ins Bad. Wasser trinken. Klo spülen. Zurück ins Bett. Es war nichts. Ausatmen. Morgen das Gespräch. Licht aus.
Ich sitze also im Keller, die schwere Eisentür ist zu, ich höre die Sirene wieder und wieder und fürchte mich zu Tode. Wie lange geht das schon, wie lange wird es noch gehen? Die Einschläge kommen näher, die Wand zittert wieder und wieder - da - es ist ganz nah - der Donner - ich bin schon taub - jetzt ist der Schlag da, es ist so weit, wir werden alle sterben - ich schreie - die Wände wackeln wieder, die Einschläge, kommen noch welche? Irgendwann ist es vorbei. Irgenwann verstummt die Sirene. Es ist einfach still. Ich kann nicht glauben, wir leben alle noch. Mein Mann öffnet die schwere Eisentüre und ich blicke in den nackten Himmel. Wir wurden getroffen, das Haus ist weg.
Ich liege auf dem Tisch. Man kann mich drücken. Ich habe keine Empfindungen, Ich liege hier so rum. Früher war ich in der Tiefe der Erde. Männer haben mich aus dem Sand gezogen, in riesige Tanks von Schiffen gefüllt, ich ging durch Raffinereien, wurde verestert und umgeestert, ich kam in Spritzgußformen und wurde fest. Wer hat mich zusammengeschraubt, und wi? Jetzt ist es dämmrig, ich liege hier. Ich kann eine Stütze sein, eine Gedankenstütze, eine Klammer oder auch eine Waffe. Das aber nur ganz selten. Meist liege ich hier. Manchmal werde ich benutzt. Die hand führt mich und ich befreie die Gedanken des Schreibers. Wie gesagt, das passiert aber nur selten. Und so warte ich auf den Tag, an dem doch etwas geschieht, großes geschieht.
Mein ganzes Leben habe ich auf diesen Moment gewaret: heute heirate ich Derek! Ich dusche, obwohl das Wasser knapp ist, ich kämme meine Haare, isch schminke mich und ziehe das schöne weiße Kleid über, das meine Mutter extra für mich organisiert hat.
Derek ist im Nebenzimmer. Er hat heute morgen ebenfalls geduscht, dann ging er kurz fort, um noch etwas zu erledigen. Seit er zurück gekommen ist, zieht er sich ebenfalls um: die schwarze Hose, das weiße Hemd, die Kravatte, alles hat seine Mutter gebracht.
Zwischendrin telefoniert er mit seinen Freunden, sie kamen vorbei, um mit ihm zu sprechen. Die Gewehre stellen sie in unserem Flur ab.
Meine Freundinnen sind nicht da. Ich habe auch kaum welche. Sura und Tamila sind gegangen, Agata ist tot. Ich habe das Leben, und ich habe Derek.
Kurz denke ich an Pascal. Wie es ihm wohl geht? Wir hatten eine kurze Affäre von drei Wochen in den Ferien, vor dem Krieg. Er machte Urlaub bei uns. Seine schüchterne Art ging mir auf den Geist, und so habe ich ihn schnell vergessen. Doch seit dem Krieg frage ich mich schon, was wohl aus ihm geworden ist. Schließlich gehört er jetzt zu unseren Feinden.